Weihnachtsmeeting des Rotary Clubs Linz (Dezember 2009)

Mensch bleiben

Adventsgedanken zum Thema „Entschleunigung“

 

Verehrte Damen, Herr Präsident, liebe rotarische Freunde!

Präsident Dr. Heidler hat mich gebeten, zum heutigen Weihnachtsmeeting einige Gedanken zum Thema „Entschleunigung“ beizutragen. „Mensch bleiben“ steht als Überschrift über diesen Ausführungen.

Ihr werdet Euch fragen, warum gerade der Tourismusdirektor nach einem erfolgreichen, von dichtester Programmfülle und einem ebensolchen Terminkalender geprägten Jahr dazu kommt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Wir haben ein Kulturhauptstadtjahr hinter uns, das im Schatten der Weltwirtschaftskrise in zahlreichen Projekten für Linz Themen aufgezeigt hat, die in hoher Qualität darauf hinweisen, was für die Kultur unserer Gesellschaft und für die Qualität des persönlichen Lebens wichtig ist. Es ging weniger um ein Feuerwerk großer Namen, sondern um Projekte, die auf Fragen und Bedrängnisse unserer Zeit versuchten, Antworten, Lösungen oder zumindest Denkanstösse zu geben.

Ich sehe meine Betrachtungen aber auch im Kontext unseres Jahresthemas „Ethik und Wirtschaft“, das unserem Präsidenten ein besonderes Anliegen ist.

Frank Schirrmacher, der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt in seinem neuesten Buch „Payback“: „Die drei Ideologien, die das Leben der Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten bis heute am nachhaltigsten verändert haben, waren Taylorismus – also die „Arbeitsoptimierung“ gesteuert durch die Stoppuhr und den Zwang zur äußersten Effizienz – , Marxismus und Darwinismus. Alle drei Weltbilder finden im digitalen Zeitalter in einer „personalisierten“ Form, nicht als Ideologie, sondern als Lebenspraxis, zusammen. Der Taylorismus in Gestalt des Multitaskings, der Marxismus in Gestalt kostenloser Informationen, aber auch selbstausbeutender Mikroarbeit im Internet, die vor allem Google zugute kommt, und der Darwinismus in Gestalt des Vorteils für denjenigen, der als erster die entscheidende Information hat.“ (Schirrmacher, 2009)

Beim Linz09-Projekt „Turmeremit“ konnten seit Advent letzten Jahres 58 Eremitinnen und Eremiten in der Türmerstube des Linzer Mariendomes eine „Auszeit“ nehmen. Entschleunigung mitten in einer sehr erfolgreichen, aber auch sehr beschleunigten Stadt Linz

Das Linz09 Projekt „Hörstadt“ führte dazu, dass der Linzer Gemeinderat eine Charta des Hörens verabschiedete, in der die Stadt sich verpflichtet, die Stadtplanung unter akustischen Gesichtspunkten zu verbessern, wo zahlreiche Restaurants, Geschäfte und Hotels sich verpflichtet haben,  beschallungsfreie Zonen einzurichten und viele tausende LinzerInnen und BesucherInnen haben das Angebot von Ruhepolen mitten in der Stadt begeistert angenommen. Zuhören können, zur Ruhe kommen, Stille wieder schätzen lernen – Ein Projekt in unserer lauten Zeit, das viel mit der Kultur des Zusammenlebens und mit Lebensqualität zu tun hat.

In seinem Buch „Das Moses Prinzip – Die 10 Gebote des 21. Jahrhunderts“ schreibt der deutsche Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski als neuntes Gebot: „Suche die Halt- und Ruhepunkte deines Lebens wieder“. Es heißt dort u.a. „Für unsere Zukunft muss gelten: Das Wohlbefinden bemisst sich in einer gelebten Zeitkultur … Wer seinen Gedanken freien Lauf lassen kann, muss mit sich selbst im Reinen sein. Weltweit breitet sich eine Bewegung der sog. Slobbies aus, der „slower but better working people“. Entschleunigung kann so auch höhere Arbeitsqualität bedeuten. Nicht die Langsamkeit soll im Arbeitsprozess hofiert werden, sondern der Kampf gegen den Tempowahn auf Kosten von Zuverlässigkeit und Qualität.“ (Opaschowski, 2006)

Reichtum – und zwar materieller wie seelischer Reichtum – in der gegenwärtigen Welt zeigt sich daran, wie viel Geld man investieren kann, um Ablenkungen von sich fernzuhalten. Stanford Forscher Clifford Nass hat im Sommer 2009 in einer aufsehenerregenden Studie zum ersten Mal die Unterschiede zwischen Menschen aufgezeigt, die sehr viel multitasken – die ständig zwischen Blackberry, Internet und Fernsehen hin und her surfen – und solchen, die es selten tun. Er fand heraus:

  • Je intensiver Menschen dem Medien-Multitasking nachgehen, desto weniger können sie auswählen, was ihr Arbeitsgedächtnis speichert und desto stärker wird ihre Zerstreutheit.
  • Multitasker verlieren systematisch die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem in ihrer Umgebung zu unterscheiden. Aber nicht nur in der Umgebung: Auch das Gedächtnis vermag nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden, was dazu führt, dass wir immer weniger in der Lage sind, ein Fazit zu ziehen.
  • Multitasker reagieren häufiger auf „falschen Alarm“, d.h., sie sind bereit, alles stehen und liegen zu lassen, wenn ein neuer Informationsanreiz eintrifft, und sie verlieren sogar die Fähigkeit, später zu beurteilen, wo es sinnvoll war, die Aufmerksamkeit abzulenken und wo nicht.
  • Multitasker werden nicht immer effizienter, sondern immer schlechter, selbst im Bereich des Multitaskings. Sie werden langsamer bei allen Tätigkeiten, die keinen Aufgabenwechsel erlauben, und können sich auf Aufgabenwechsel auch schwerer einstellen. Ein Phänomen, das die Forscher besonders überraschend finden angesichts der Bedeutung, die dem permanenten Aufgabenwechsel zukommt.
  • Die geistigen Leistungen von Multitaskern werden in einigen Bereichen immer fehlerhafter, beginnen sogar zu sinken. Die Fähigkeit des Menschen zu denken, wird immer fehlerhafter. (E. Ophir, 2009)

Stress, erzeugt durch ständiges Erhöhen der Informationsgeschwindigkeit durch digitale Gleichzeitig, reicht uns aber nicht.

Es geht auch um Verfügbarkeiten rund um die Uhr – ich focussiere stellvertretend die Diskussionen um die Ladenöffnung am Sonntag. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Siedenbiedel, 6.12.2009) beschäftigte sich erst am vergangenen Sonntag mit diesem Thema. Anlass war ein aktuelles Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes gegen regelmäßiges Sonntags-Shopping. Zur Begründung kam ein Rechtsgrundsatz aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zur Anwendung, wonach der Sonntag der „seelischen Erhebung“ dienen solle. Ob das am Sonntag auch ohne offene Geschäfte gelingt, lasse ich dahingestellt. Die Erkenntnis aber bleibt, dass der Mensch einen Tag in der Woche zum Ausatmen – einen Tag der verrät, dass Arbeit und Einkaufen nicht alles ist, braucht. Wer keinen Rhythmus der Wochentage hat, wird irgendwann krank, sagt Frank Erbguth, der Leiter der Neurologie am Nürnberger Klinikum in diesem Artikel der FAZ. Und dieser Erkenntnis schließen sich gleich die Soziologen an die feststellen, dass wenn man richtig konsumieren will, man nicht nur Tage zum Kaufen sondern auch Tage zum Genießen braucht, so Hartmut Rosa von der Universität Jena. Und sein Kollege Jürgen Rinderspacher von der Universität Münster ergänzt mit der Wichtigkeit des „kollektiven Moments“. „Seine Ruhe findet man nicht unabhängig von anderen“, so Rinderspacher. „Seelische Erhebung gibt es nur in der Gemeinschaft“.

Adalbert Stifter hat im Kulturhauptstadtjahr eine neue Aufmerksamkeit gefunden. Die Linz09 Veranstaltungen des Stifterhauses heben eine enorme Resonanz gehabt. Sogar in der Literaturbeilage der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ vom August 2009 konnte man auf vier Seiten lesen, warum der Roman „Der Nachsommer“ von Adalbert Stifter zur zeitlos wichtigen Literatur Europas gehört. Ulrich Greiner schreibt: „..Denn Stifter geht es keineswegs darum, etwas Neues oder Aufregendes mitzuteilen. Er vermeidet in seiner Sprache die exzessiven Spitzen, er moduliert sie herunter auf ein zartes Moll und erreicht dadurch einen Effekt wie wir ihn aus der minimalistischen Musik kennen: Da alles scheinbar gleich bleibt, aber eben nur scheinbar, gewinnt jede Variation eine höhere Bedeutung.“ (Greiner, 26/2009)

Die Kulturhauptstadt hat Qualitäten unserer Zeit thematisiert, die darauf hinweisen, worauf es in einer ganzheitlich erfolgreichen Stadt im 21. Jahrhundert ankommt.

 

Wirklicher Erfolg stellt sich nur dann ein, wenn Balance, Rhythmus und das rechte Maß gefunden werden.

Schon der Turmbau zu Babel, aber jüngst auch die Ereignisse der Weltwirtschaft vom Ende des Immobilienbooms in den USA im Herbst 2008 bis zu den aktuellen Entwicklungen in Dubai im Dezember 2009 zeigen, dass eine Linearität im Sinne von …größer, höher, weiter immer wieder an Grenzen stößt. In der Natur und in der Wirtschaft gelten gleichermaßen Regeln, die beinhalten, dass quantitative Entwicklungen endlich sind und dann schmerzhaft gestoppt werden, wenn man nicht rechtzeitig den Übergang zu qualitativen Aspekten realisiert. Der Mensch spürt das ebenso, wenn er erleben muss, dass sich im Freundes- und Bekanntenkreis immer wieder jemand vor lauter Erfolg und Einsatz mit Herzinfarkt oder ähnlichen Krankheiten dauerhaft aus der Erfolgsmaschine verabschiedet oder man mit bekannten Überforderungssymptomen von Burnout über Tinnitus bis zu Angst bzw. Alkohol- oder Potenzproblemen nur noch eingeschränkt am weiteren Leben teilnehmen kann.

Advent ist nicht nur die Zeit der Erwartung – die Metapher, dass man auch warten können muss und nicht alles hier und jetzt und gleich und sofort sein muss soll uns nachdenklich machen. Advent ist auch die Zeit der Stille, die Zeit, in der man etwas zur Ruhe kommen soll und damit bin ich wieder bei den Kulturhauptstadtprojekten vom Turmeremit bis zur Hörstadt und zu Adalbert Stifter.

„Stille, Stahl & Sterne“ nannten wir seitens des Tourismusverbandes unser Motto für die Bewerbung der Advents- und Weihnachtszeit in Linz. Es soll ein erweiterter Zugang sein, als nur der Blick auf Glühwein, Weihnachtsmärkte und einer Klangwolke aus einer mit Weihnachtsliedern überfluteten Stadt.

Wie passt dieses Motto zu einer der erfolgreichsten Industriestädte Europas? In meinem Editorial zum Linz-Journal habe ich geschrieben „… wer nach Sternen greift, womit sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Linz schon der Astronom Johannes Kepler beschäftigte, muss auch Zeit haben zu geniessen, zu entspannen und sich wieder neu aufzuladen. Wer erfolgreich ist, darf sich auch belohnen. Geschenke einkaufen und die Sterne des Universums und am Christbaum auf sich wirken lassen.“ Wer die Dimensionen des Unviversums im Deep Space unseres Ars Electronica Centers erlebt, wird aber auch demütig und klein – man erlebt die Perspektive des Kindes.

Ich beobachte zwei Phänomene:

  • Wir wollen und müssen immer noch mehr Aktivitäten, Vorgänge und Erledigungen in den täglichen Arbeitsalltag hineinpacken. Die elektronischen Informations- und Kommunikationsmittel lassen rund um die Uhr alles zu – wir erleben das geradezu als die Büchse der Pandora.
  • Wir haben zu wenige Unterbrechungen. Es geht vor allem der Rhythmus immer mehr verloren, der für Gesundheit, Wohlergehen und für das Aufladen des körperlichen und geistigen Akkus sehr wichtig ist.

Gerd Lothar Reschke stellt in seiner Interpretation von Stifters Werken fest: „Ja, Stifter steht im totalen Gegensatz zu den heute verbreiteten Lebenswerten und Lebenszielen! Die Welt der Ruhe, Naturliebe, der stillen Wahrnehmungen und weichen Gefühle des Herzens ist weitgehend vertrieben und ausgetilgt worden. Seine Werke sind wie Naturschutzgebiete für etwas im Aussterben Begriffenes. Es könnte sein, dass das, was da ausstirbt, nichts anderes ist als: das Menschliche.“ (Reschke)

Aber Adalbert Stifter hat es geahnt, als er in seinem „Nachsommer“ in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts bereits schreibt:

„…Wir haben zum Teil die Sätze dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe auf den Handel auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir stehen noch zu sehr in den Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedenen Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austausches gemeinsam werden, dass allen alles zugänglich ist? …. Wie weit das geht, wie es werden wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund inne wohnt, beharren mag.“ (Stifter, 1857)

Aus dem „Nachsommer“ kommt auch die Erkenntnis, dass ökonomisches Wachstum inneres Wachstum nicht ersetzen kann.

Ich schätze sehr das benediktinische Regel- und Erkenntniswerk und würde mir wünschen, dass die Entscheidung meines bayerischen Landesmannes Josef Ratzinger als Papst den Namen Benedikts anzunehmen, diesen Botschaften noch mehr Verbreitung und Zugang ermöglicht. Der Benediktinerpater Anselm Grün schreíbt in seinem Buch „Leben und Beruf – Eine spirituelle Herausforderung“ (Grün, 2005) als Schlussgedanke folgendermaßen:

„Benediktinische Schulen in aller Welt haben sich daher als Programm gesetzt, die Globalisierung zu humanisieren und die Humanität zu globalisieren.“ Hier schließt sich der Kreis zu den Zielen Rotarys und unseren bekannten vier Fragen:

Ist es wahr?

Ist es fair?

Wird es die Freundschaft und den guten Willen fördern?

Wird es dem Wohle aller Beteiligten dienen?

Angesichts der Informationsüberflutung heißt Mensch bleiben und Mensch sein in der Zukunft deshalb mehr denn je, dass wir die richtigen Fragen stellen und dass wir nicht blind werden, weil wir angeblich alles wissen können und vor lauter Fixiertheit in den Rückspiegel die neuen Wege übersehen, die wir nehmen sollten.

Es waren in diesem Jahr 2009 nicht nur viele Ausstellungen, Konzerte und Festivals. Das Programm der Kulturhauptstadt ging sehr viel tiefer und hat sehr wohl dazu beigetragen, den Blick für unsere Werte, für Kultur und Lebensqualität in unserer Zeit neu zu eröffnen.

Ich wünsche uns die Balance im Alltag, wo wir die schnelle Zeit für effektives Arbeiten brauchen, aber auch die langsame Zeit, in der man sich auf den Augenblick einlassen kann. (Grün, 2005)

Ich wünsche Ihnen noch eine ruhige Adventszeit und ein Weihnachtsfest, das Zeit lässt für neue Gedanken und Vorsätze, die Qualitäten des Lebens für sich und seine Umwelt weiter zu entwickeln und in den Alltag zu integrieren.

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