Krisen als Folgeerscheinungen von Kulturdefiziten – Antworten und Programmformate aus Linz, der Kulturhauptstadt Europas 2009

Vortrag im Rahmen der Tagung der Europäischen Akademie Bozen am 1. Juli 2009

 

Linz an der Donau ist die Landeshauptstadt Oberösterreichs. Sie war bisher – wenn überhaupt – als Industriestadt bekannt. Lt. einer repräsentativen Befragung in Deutschland kennen Linz (ungestützt) rd. 23% als österreichische Stadt, aber die Hälfte der Befragten hat kein Bild, keine Spontanassoziation zu Linz parat.
Die andere Hälfte nennt zu 38% die „Linzer Torte“, zu 9% die Donau und jeweils zwischen ein und zwei Prozent die Themen „Industrie“, „Stahlwerk“, „Anton Bruckner“ oder „Adolf Hitler“.
Linz hat aktuell rund 190.000 Einwohner, aber mehr als 200.000 Arbeitsplätze. Spontan reimt man „…in Linz beginnt’s“, so der Slogan der Stadt über viele Jahre. Nach einer Zeit unter dem Slogan „Linz, eine Stadt lebt auf“ heißt es nun „Linz.verändert,“.
Damit wird der Blick auf den Prozess einer Metamorphose, dem sich Linz in den vergangenen Jahrzehnten unterzog ebenso thematisiert wie aktuelle Prozesse, die nicht zuletzt im Jahr der Kulturhauptstadt Europas eine besondere Schwerpunktsetzung erfahren haben.

 

Kultur – Natur – Industrie

Unter dieser Ganzheitlichkeit hat sowohl die Intendanz der Kulturhauptstadt als auch Stadt und Tourismusverband der europäischen Öffentlichkeit Linz als veränderte Stadt präsentiert. Nicht die Fixierung auf einige Kulissen oder vermeintliche touristische Klischees, wie sie üblicherweise von Gästen erwartet werden, sondern die Faszination einer erfolgreichen Stadt der Gegenwart stand im Mittelpunkt des Programms und der Kommunikation.
Dahinter stand die Erkenntnis, dass Linz in den vergangenen Jahrhunderten keine sonderliche Bedeutung spielte und als österreichische Provinzstadt nicht über die architektonischen und historischen Landmarks verfügt, die für Städtetouristen, die primär auf Spuren „romantisierender Rückwärtsgewandtheit“ unterwegs sind, Eindruck machen können. Die Suche nach Ruinen, Burgen, Schlössern, gewaltigen Kirchen und einer schönen Altstadtkulisse erschließt sich in Linz erst auf den zweiten Blick.

Aber jetzt, im 21. Jahrhundert, gehört Linz zu den erfolgreichsten Städten Österreichs, wenn nicht Mitteleuropas. Auch aus touristischer Sicht geht es deshalb darum, dass für Gäste die Frage thematisiert und erlebbar gemacht wird, was heute Erfolg ausmacht.
Während man aus der Geschichte Erfolg mit großen Burgen, Stadtmauern, Logistik an Flüssen und Handelswegen o.ä. Faktoren verband, ist es heute die Ganzheitlichkeit aus funktionierender Wirtschaft und Industrie, aus hoher Lebensqualität, die sich aus besten ökologischen Werten, aus sozialer Qualität und attraktiven und preisgünstigen Angeboten der Daseinsvorsorge generiert und ein Kulturangebot im Sinne eines „Lebensmittels“ für breite Schichten der Bevölkerung bietet.

In Linz wurden in den vergangenen Jahren mehr als € 200 Mio. in kulturelle Einrichtungen investiert. Dazu gehört ein sog. Wissensturm, der Volkshochschule und Stadtbibliothek enthält, eine Landesbibliothek, ein Museum der Zukunft – das sog. Ars Electronica Center, der Südflügel des Linzer Schlosses, der zum größten Universalmuseum Österreichs ausgebaut wurde, das OK Offenes Kulturhaus Oberösterreich, das Museum Lentos oder das Landeskulturzentrum Ursulinenhof. Dies sind nur die unmittelbaren Kulturbauten.
Für jeweils mehr als € 30 Mio. baute aber auch der Stahlkonzern Voest das Besucherzentrum „voestalpine Stahlwelt“ und die Pöstlingbergbahn wurde als steilste Schienenadhäsionsbergbahn Europas zum Linzer Hausberg und Linzer Wahrzeichen, dem Pöstlingberg, völlig neu gebaut und in die Innenstadt verlängert.
Im Jahr 2009 wurde der Spatenstich zum neuen Musiktheater gemacht, das im Jahr 2012 fertig wird und weitere rd. € 150 Mio kosten wird. Es gibt sicherlich wenige Städte von der Größenordnung wie Linz, die in solchen Größenordnungen in Kultur investieren und dazu auch Mittel zur Verfügung stellen, das alles adäquat zu bespielen.

Linz hat als Industriestadt nach Wien die besten Werte in Sachen Luftqualität.
Über 60% der Stadt sind Grünfläche, obwohl Linz über einen sehr engen Zuschnitt verfügt.
Die Donau, zahlreiche Parks, aber auch einer der schönsten Botanischen Gärten Europas schaffen hohe Lebensqualität.

Linz verfügt über mehr Arbeitsplätze als Einwohner und konnte auch im schwierigen Jahr der Weltwirtschaftskrise mit rd. 4% Arbeitslosigkeit fast Vollbeschäftigung erzielen.
Linz verfügt mit der zentralen Straßenachse durch die Innenstadt, die Linzer Landstraße über die am stärksten frequentierte Einkaufsstraße Österreichs nach den Wiener Shoppingmeilen. Dies aber vor der Tatsache, dass auch um Linz herum große Shoppingcenter entstanden sind. Die Wirtschaftsstruktur besteht neben Stahl- und Chemieindustrie auch aus starken Firmen des Maschinenbaus, des IT-, des Banken- und Dienstleistungssektors.
Fünf Universitäten bzw. Hochschulen sorgen für das geistige Potential und für den Forschungs- und Entwicklungsbereich.

Soweit die Kriterien und der Content, aus dem heraus sich Linz als erfolgreiche Stadt sieht und die auch Basis für die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas waren.

 

Kulturhauptstadt Europas 2009 – die Programmstruktur

2004 erhielt Linz seitens der Europäischen Kommission den Zuschlag, im Jahr 2009 zusammen mit der littauischen Hauptstadt Vilnius Kulturhauptstadt Europas zu sein.
Man verpflichtete mit Martin Heller einen Intendanten aus der Schweiz und mit Dr. Ulrich Fuchs einen stellv. Intendanten aus Deutschland. Es sollte bewusst der Blick von außen in die Programmplanung der Kulturhauptstadt Eingang finden. Ein Budget von rd. € 70 Mio. wurde zur Verfügung gestellt. Rd. 220 Projekte unter den Themen „Linz Welcome, Linz Hauptstadt, Linz Macht, Linz Reise, Linz Welt, Linz Gedächtnis, Linz Wissen, Linz Lust, Linz Feiertag und Linz Traum“ wurden zu einem Gesamtprogramm gegossen.

Projekte, die nicht den üblichen Kulturformaten aus Musik, Theater bzw. Festivals folgten, sondern zahlreiche neue Programmformate enthielten und Fragestellungen und Herausforderungen unserer Zeit aufgriffen. Der Tourismusdirektor hatte nun die Aufgabe, mit dieser Programmstruktur, die sich weniger aus sog. „Krachern“ zusammensetzte sondern viele Geheimtipps, interessante Kulturmacher, Regisseure und Künstler nach Linz brachte auch Gäste zu werben. Eine Popularität der Linz09-Angebote vergleichbar derer von Verona, Mörbisch oder Bregenz war von vorneherein nicht gegeben.

 

Metathemen

Die Touristiker haben dies aber als Herausforderung angesehen und sich als Übersetzer und Werber betätigt. Es gab ja immerhin die o.g. neuen Bauten, wo jede Einrichtung für sich bereits einen Jahresschwerpunkt gerechtfertigt hätte.
Es gab auch interessante Ausstellungsprojekte über das ganze Jahr verteilt und es waren Festivals – wenn auch teilweise völlig neuen Zuschnitts – die sich ebenfalls von Januar bis Dezember 2009 verteilten.

Die Kunst und der neue Zugang des Tourismus zur Kulturvermittlung bestand nun darin, die „roten Fäden“ zwischen den Programmprojekten, aber auch zu Linz passenden und bereits vorhandenen Themen zu finden und diese verständlich aufzubereiten.
Die Chance wurde gesehen, dass anstatt des kulturellen „Tourneetheaters“ etwas entstehen konnte, das auch nach der Kulturhauptstadt mit Linz in Verbindung gebracht und weiterentwickelt wird.
Nicht nur als touristische Attraktion, sondern als fester Bestandteil der gesamten Stadt, die für Einheimische wie für Gäste neue Zusammenhänge erschließen und Themenstellungen unserer Zeit in attraktiver Form aufgreifen und erlebbar machen sollte.
Kulturelle und gesellschaftliche Fragestellungen im Jahr der Weltwirtschaftskrise besonders zu thematisieren und zu vermitteln erwies sich auch im Sinne der Themenstellung dieses Referats als ein Zugang, den sowohl Gäste als auch viele Medienvertreter als sehr gelungen und erlebten.
Seitens des Tourismusverbandes Linz wurde unter dem Titel „Linz,Spectrum“ ein Journalistenwettbwerb mit der Zielsetzung ausgelobt, die Kulturhauptstadt Europas nicht nur unter feuilletonistischen Gesichtspunkten, sondern in ihrem ganzheitlichen Ansatz zu betrachten. Der Dokumentationsband liegt seit Dezember 2009 vor, und zeigt eindrucksvoll auf, wie dies gelungen ist.

Es wurden gerade auch für die touristische Präsentation sog. Metathemen formuliert und aus den 220 Kulturhauptstadtprojekten verdichtet.
Mit folgenden Themen konnte man überzeugend darlegen, dass Kultur sich auch in unserer Zeit weiter entwickelt, spannend und interessant bleibt und sich Fragen und Herausforderungen unserer Zeit widmet. Ganz im Sinne des Themas dieses Referats.

  1. Design und Architektur – von der Funktionalität zur Ästhetik – Ausdrucksformen des 21. Jahrhunderts. 

    Stahl, Glas, Licht und Farbe prägen die neuen Bauten in Linz. Nicht mehr eine in Stein gemeisselte Architektur, sondern die Leichtigkeit und Formensprache unserer Zeit dominiert. Design wird in Linz auch als ganzheitlicher Prozess erlebbar. Am Beispiel der sog. „Pixel-Hotels“ wird deutlich, dass Design mehr ist, als nur eine neue Formensprache zu finden. Innenarchitekten haben sich zusammen getan, um Leerstände, die in der ganzen Stadt verteilt sind, zu Übernachtungsquartieren mit hohem Designanspruch umzubauen. Wenn man die Stadt betritt, steht man bereits in der „Rezeption“. Man erhält in seinem „Pixel“ Gutscheine für die Nutzung der Cafés und Restaurants der Umgebung. Aufgrund der Auswahl der Locations taucht man in die Stadt ein. Man erlebt eine Hotelunterkunft nicht mehr als „exterritoriales Gebiet“ sondern atmet die Stadt ein. Ein Projekt, das hohe mediale Aufmerksamkeit erzielt hat und auch im Sinne des touristischen Angebotes zeigt, wohin Städtetourismus sich entwickeln kann. Eine Stadt nicht mehr nur zu besichtigen, sondern auf geeignete Weise zu „inhalieren“. Design wird zum ganzheitlichen Prozess.
    Auch die gemeinsame Infostelle zwischen der Linz09-Organisation und dem Tourismusverband wurde in hoher Gestaltungsqualität realisiert. Erstmals wurde eine Infostelle zu einer Landmark am Linzer Hauptplatz.

  2. Wandlungsprozesse zulassen und gestalten. 

    Nicht nur der Blick zurück, wie es einmal war, sondern der Blick auf den Prozess, wie etwas geworden ist und wohin die weitere Entwicklung gehen kann wurde in verschiedenen Projekten thematisiert. Dies sind andere Ansätze, um eine Stadt zu erschließen und sie Bürgern und Gästen nahe zu bringen. „Linz. Stadt im Glück“ hieß eine Ausstellung, die diesen Zugang wählte. Und im globalen Maßstab hat das Ars Electronica Center das Projekt „Geo City“ und das Projekt „80 + 1“ realisiert. Es ging darum, die eigene Stadt unter vielen Aspekten mit den Entwicklungen in der Welt zu vergleichen und auch einzutauchen in Prozesse, die derzeit in anderen Teilen der Welt ablaufen. Eine „Weltkommunikation“ im neuen Stil, die Verständnis, Sensibilität und Betroffenheit auslöst, wenn man realisiert, wie Ursachen und Wirkungen im großen Massstab zusammenhängen. Am Beispiel von Linz kann aber auch dokumentiert werden, in welch komfortabler Position man sich im Vergleichsmaßstab mit Europa und der Welt befindet, wo aber auch noch Defizite aufzuarbeiten sind. Das Projekt „Linz,Atlas“ entwickelte eine Fülle von Vergleichen, die außerhalb von statistischen Jahrbüchern den Blick für Qualitäten und Zusammenhänge im internationalen Maßstab öffnen und so Zufriedenheit und Defizite in der vergleichenden Betrachtung generieren.

  3. Mensch bleiben, Entschleunigung, zur Ruhe kommen. 

    Es fällt auf, dass sich die Kirche in Linz mit Projekten in die Kulturhauptstadt eingebracht hat, die zwar auf der jahrtausendelangen christliche kontemplativen Tradition beruhen, die aber nicht in frömmlerischer Weise, sondern in einer neuen Philosophie der Öffnung den Menschen erreichen.Erfolg in den Kategorien „…größer, höher, weiter“ stösst immer wieder an seine Grenzen. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel zeigt in der Bibel diese Entwicklung auf. Aktuell erleben wir die Entwicklung der Weltwirtschaft, aber mittlerweile sogar am persischen Golf, dass die Bäume/Gebäude nicht in den Himmel wachsen. Alle Entwicklungen der Natur vermitteln die Erkenntnis, dass Wachstum den Übergang von Quantität zu Qualität schaffen muss, sonst droht der Kollaps. Bei Menschen stellen wir fest, dass zu viel Erfolg zu einem vorzeitigen Ende führen kann – wir alle kennen das Phänomen Herzinfarkt im besten Alter oder zunehmend Überforderungssymptome von Burnout über Tinitus bis hin zu Alkoholismus und Impotenz die dazu führen, dass man am weiteren Leben trotz allen wirtschaftlichen Erfolges nur noch eingeschränkt teilnehmen kann.

    Häufige Ursache ist die einseitige Fixierung auf Karriere, Geld und Macht und der Verlust der Balance. „Mensch bleiben“ – diese Botschaft findet man einer erfolgreichen und pulsierenden Stadt wie Linz deshalb in sehr spannenden Projekten, die sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Gästen eine enorme Resonanz gefunden haben.

    Im Rahmen des Projektes „Turmeremit“ konnte man in der Türmerstube des Linzer Mariendomes eine Woche „Auszeit“ als „Turmeremit“ buchen. Für 58 Wochen, die angeboten wurden, gab es mehr als 300 Bewerbungen. Alle Eremiten berichten von äußerst positiven Erfahrungen.

    Das zentrale Musikprojekt in Linz 2009 nannte sich „Hörstadt“. Es geht darum, die akustische Umwelt zu thematisieren und dadurch dem belastetsten Organ des Menschen, dem Ohr besser gerecht zu werden. Während Mund, Nase und Augen aktiv verschlossen werden können, ist das Ohr permanent „online“. Das Ohr hat keine Augenlieder und es verdichten sich die Erkenntnisse aus der Medizin, dass ständige Geräuschbelastung zu nachhaltigen gesundheitlichen Schädigungen führen. Damit in Verbindung steht auch das menschliche Bedürfnis, hin und wieder zur Ruhe zu kommen, zuhören zu können. Im Rahmen einer sog. „Linzer Charta“ verpflichtet sich die Stadt, künftige Aktivitäten der Stadtentwicklung besonders auch unter akustischen Gesichtspunkten zu planen. Es entstanden – auch in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche sog. „Ruhepoole“ in der Stadt – Räume der Stille, in die man sich  aus der lauten Stadt zurückziehen kann und es wurde eine Kampagne für „beschallungsfreie Räume“ ins Leben gerufen, der sich Restaurants, Geschäfte, Hotels angeschlossen haben, indem sie auf Hintergrundmusik verzichten. In einem „Haus des Hörens“, dem sog. Akustikon werden Klangwirkungen und Töne erlebbar gemacht.

    Zu diesen beiden Programmpunkten gehört zur Thematik „Entschleunigung“ aber auch die Wiederentdeckung des Dichters Adalbert Stifter, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Linz gelebt hat und dort auch begraben liegt. Er hat in seinen Werken auf entschleunigte Weise die Aspekte Menschlichkeit, natürliche Prozesse und die Qualität des Lebens thematisiert. Die Literaturbeilage im August 2009 der Wochenzeitung „Die Zeit“ zählt Stifters Roman „Der Nachsommer“ zu den zeitlos gültigen Romanen und der italienische Literaturwissenschaftler Claudio Magris hat in seinem Buch über die Donau vor mehr als 20 Jahren bei seiner Betrachtung zu Linz genau diesen Aspekt herausgearbeitet.

    Auch die Donau, die in Linz sich in moderner Inszenierung mit  Bauten aus Glas, Licht und Farbe präsentiert und die mitten durch die Stadt verläuft wurde zu einem Symbol, das sich unter touristischen Gesichtspunkten mit den entschleunigten Formen des Reisens einen Namen gemacht hat. Der Donauradweg von Passau nach Wien gilt mittlerweile als „die Mutter aller Radwege“. Wer mit dem Rad unterwegs ist, gönnt sich einige Tage der Entschleunigung. Mehr als 100 Kreuzfahrtschiffe und ein dichtes Programm an Tagesausflugsschiffen lassen per Schiff die Donau „entschleunigt“ erleben. Im Jahr 2010 wird von Passau nach Niederösterreich der sog. Donausteig, ein faszinierender Panoramawanderweg, eröffnet. Wer wandert, gönnt sich „Entschleunigung“ und kann in Linz auf besondere Weise zur Ruhe kommen.

    „Stille, Stahl und Sterne“ heißt deshalb auch der Slogan für die Advents- und Weihnachtszeit in Linz. Die „stille Zeit“ des Jahres bewusst zu thematisieren gelingt an vielen klassischen „romantischen“ Weihnachtsorten oft nicht mehr. „Hörstadt“ ist eine Einladung, diesen Aspekt der Weihnachtszeit wieder bewusster aufzunehmen. Die Sterne bedeuten in Linz nicht nur Weihnachtsschmuck und Gebäck, sondern der Astronom Johannes Kepler hat in Linz die Bahnen der Planeten erforscht. Eindrucksvoll wird dies im Museum der Zukunft, dem sog. „Ars Electronica Center“ präsentiert, wo man auf Basis aller verfügbaren Bilder des Weltalls virtuell bis an die Grenzen des Universums reisen kann. Ein Blick, der einen – wie in der Weihnachtsbotschaft beim Kind in der Krippe – auch klein und demütig werden lässt.

    So passen die Projekte der Kulturhauptstadt mit den Bedürfnissen nach Menschlichkeit und Maß zusammen. Und dass es auch hier nicht nur um weiche Themen, um Langsamkeit alleine gehen kann wird auch das zentrale Element der Industrie in Linz thematisiert. Stahl steht für Härte, für Dynamik und für Höhe – nur im Zusammenwirken von Anspannung und Entspannung, von hart und weich, von schnell und langsam oder von laut und leise entsteht Balance und wirklicher Erfolg. So die Erkenntnisse, die eine Kulturhauptstadt unserer Zeit auch vermittelt

  4. Grenzen durchbrechen – über den eigenen Tellerrand hinausschauen – Universalität in unserer Zeit. 

    Linz ist eine Arbeiterstadt und nicht nur österreichweit sondern in ganz Europa – Stichwort Pisa – ist feststellbar, dass das Bildungsbürgertum, das Wissen über Zusammenhänge sich auf dem Rückzug befindet. Man verfügt zwar über alle Informationen, aber man versteht die Zusammenhänge nicht mehr. Hier wurden Programmformate angeboten, die bewusst die Verknüpfung von scheinbar nicht zusammengehörenden Disziplinen, Angeboten und Themen  beinhalteten. Im sog. Kepler Salon diskutierte der Rektor der Kunstuniversität mit dem Kapitän des Linzer Fußball-Bundesligavereins, um verschiedene Kulturen zusammenzuführen und auszutauschen. Im Museum Lentos wurde die Schau „See this sound“ präsentiert, wo es um die Verknüpfung von Bild und Ton ging. Die Eindimensionalität wird zunehmend aufgehoben. Während man in das Konzerthaus ging, um Töne zu hören und in das Museum, um Bilder zu bestaunen, werden diese beiden Kanäle – nicht zuletzt seit der Erfindung des Tonfilms zusammengeführt und zu neuen Kunstprojekten verschmolzen Mit den Augen hören und mit den Ohren sehen lautete hier das Motto. Neue Kunsterlebnisse, deren Auswirkungen auf unsere Kreativität, auf unser Denken und Fühlen noch nicht absehbar sind.Um Zusammenhänge zu erkennen geht es aber auch bei neuen Museumskonzepten. Das Projekt „Geo City“ (s.o.) oder das größte Universalmuseums Österreichs im Linzer Schloss, wo die Bereiche Technik, Natur sowie Kultur und Landesgeschichte miteinander verwoben werden.

    Das Projekt „I like to move it, move it” hat in 100 Schulen in Oberösterreich zusammen mit Künstlern neue Unterrichtsformen ausprobiert. Es geht nicht mehr um Faktenwissen, sondern um die Metafähigkeiten Selbstvertrauen, Kreativität und Kooperation/Zusammenarbeit. Obwohl vielleicht die ein oder andere Schulstunde versäumt wurde, konnte die Aufnahmebereitschaft im Nachgang zu diesen Projekten erhöht werden und mehr Spass als der klassische Unterricht hat das Ganze auch gemacht.

  5. Überblick und Orientierung geben in Zeiten hoher Informationsflut. 

    Wie verfügen über viele Fakten, aber kennen nicht mehr die Zusammenhänge (s.o.) und haben auch keinen Überblick mehr. Formate wie „Best of…“ oder „Biennale Couveé“ sorgen dafür, dass breitere Schichten erst wieder einmal den Überblick bekommen, welche Kunst beispielsweise in österreichischen Museen steht was derzeit im Bereich zeitgenössischer Kunst en vogue ist. „Teasern“ heißt hier das Konzept, dass sich in einem Linzer Lokal sogar mittels sog. „Oberösterreich Tappas“ noch weiter entwickelt hat. Auch in der Gastronomie geht es mehr darum, kosten zu lassen, Häppchen anzubieten, um den Gästen einen Überblick über das Angebot zu geben und sie für neue Dinge zu interessieren.So hat der Touristiker versucht, Faszination für neue Kulturformate und Projekte zu ermöglichen, indem Zusammenhänge über das Projekt hinaus hergestellt worden sind. Wer mit offenen Augen am kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben teilnimmt, wird weitere Zusammenhänge und Themencluster entdecken. Beispielsweise sind die Themen „Heimat neu definieren – zwischen Klischee und Zeitgeist, zwischen Migration und Internet“ oder gerade in Linz der „Umgang mit dem schwierigen Thema „Zeitgeschichte – NS Zeit“ – wohin führt Intoleranz und Größenwahn“ weitere Ansatzpunkte, aus denen sich auch für die Zukunft spannende Programmformate entwickeln lassen. Die Kulturhauptstadt hat dazu viele Ansätze entwickelt.

 

Instrumente, mit denen die Touristiker diese Themen vermitteln können:

Stadtführungen

Zentrales Nadelöhr für solche Zugänge, die sich nicht nur aus Landmarks oder Events zusammen setzen, ist die persönliche Vermittlung an die Gäste. Nicht die faktenorientierte, mit überwiegend geschichtlichen Daten aufgeladene Darstellung sondern das Erschließen von Zusammenhängen stellt gerade für das Angebot der Stadtführungen eine besondere Herausforderung dar. Ganz abgesehen davon, dass aufgrund neuer Angebote im Internet, ständig abrufbarer Datenpools die Gäste oft schon über mehr Details Bescheid wissen, als die Führung liefern kann, geht es um bei der Vermittlung einer Stadt um das „Setzen von Ankern“, um das „Erschließen von Zusammenhängen“. Die Gäste sollen während der Führung eine spannende Zeit erleben und sollen zuhause noch interessant über die Stadt erzählen können. Dazu wurde in Linz eine Weiterentwicklung der Führungen in einem umfassenden Prozess zwischen Tourismusverband Linz, den Austria Guides, der Wirtschaftskammer Oberösterreich und der Kulturhauptstadt zusammen mit Spezialisten für Sprachbilder und persönlicher Inszenierung (von der Typberatung bis zu einzelnen Inszenierungselementen) realisiert. Die Resonanz der Austria Guides und der geführten Gäste war außerordentlich positiv und zeigt, dass solche Zugänge durchaus auf positive Resonanz stoßen und dass eine Kulturhauptstadt damit auch beitragen kann, tradierte Formen der Stadterkundung in Frage zu stellen bzw. neue Zugänge zu entwickeln.

 

Publikationen/Szenemarketing

Viele der angesprochenen Themen und Zugänge bedürfen einer spezifischen Kommunikation und eines sog. „Szenemarketings“. Es geht darum, jene Menschen anzusprechen, bei denen dafür bereits ein latentes Bedürfnis vorhanden ist. Es ist im Grunde genommen eine Umkehrung vom klassischen nachfrageorientierten hin zu einem angebotsorientiertem Marketing. Dies bedarf zusätzlicher Tools und eine hohe Identifikation mit den Zielgruppen, die dafür erreichbar sind. Am Beispiel des Projektes „Hörstadt“ geht es im Wording und in der Angebotsgestaltung darum, diesen Zugang für die Weihnachtszeit entsprechend zu thematisieren – Stichwort „Stille, Stahl und Sterne“. Es geht aber auch darum, hier einen „Exkursionstourismus“ aufzubauen, der sich von Hals-Nasen-Ohren-Ärzten, über Gewerkschaftsfunktionäre, Hörgeräteakustiker bis zu Kommunalpoltiker erstreckt. Jeder dieser Gruppen erfordert spezifische Ansprachen und Kommunikationskanäle. An diesem Beispiel soll deutlich werden, dass die „Vermarktung“ einer Kulturhauptstadt sich mehrerer Instrumente bedienen muss und dass sich aus den Erfahrungen heraus auch für die Folgejahre eine Weiterentwicklung der Produktgestaltung ebenso wie der Vertriebsaktivitäten zwingend ergibt.

 

Schlussbetrachtung

Warum beschäftigt sich damit der Tourismusdirektor?

Während ich vor mehr als 20 Jahren im Rahmen meines Marketingstudiums lernte, wie nachfrageorientierte Gästewerbung funktioniert, stellt eine Kulturhauptstadt Europas – aber nicht nur dieses Kulturprojekt – die Angebotsorientierung in den Vordergrund.

In meiner Analyse ist eine solche Kulturhauptstadt aber ein hervorragendes Schulbeispiel für die Herausforderungen, die wir im Tourismus heute haben, wenn wir nicht nur in Gigantomanie, Kulissen und Klischees verharren wollen. Die Gäste können nicht nachfragen nach etwas, das sie noch gar nicht kennen. Hier macht die Unterhaltungsindustrie vor, wie sich neue Produkte einen Markt erschließen, der durch Marktforschung nicht herausgefunden werden konnte, weil man nicht nach Dingen fragen kann, von denen der Verbraucher sich noch nichts vorstellen kann.

Unabhängig davon, dass ich das Linz09 Programm unter dem Gesichtspunkt des gewählten Themas als spannend, innovativ und einer Kulturhauptstadt höchst angemessen betrachte, bin ich als Touristiker auch stolz darauf, dass wir uns dem Lead der Kultur gestellt haben und dazu beitragen konnte, dass dieses Programm auch von Gästen und Einheimischen wahrgenommen und begeistert angenommen worden ist.

Auf diese Weise konnte für Linz ein Weg eingeleitet werden der auch in den kommenden Jahren dazu beitragen wird, dass die gewählten Themen weiter interessant und diesen Herausforderungen gerecht werdend entwickelt und inszeniert werden können. Damit ist die Basis für die weitere Imageentwicklung einer Stadt gelegt, die weit über die Zeitdimensionen eines Produktlebenszyklusses in unserer schnelllebigen Zeit hinausgeht. Für einen Touristiker kann es auch herausfordernd sein, eine authentische, stimmige Stadt der Gegenwart zu präsentieren.

Stimmigkeit, Authentizität sind möglicherweise nicht der schnellste Wege, um große Gästescharen in eine Stadt zu bekommen. Es wird aber der langfristig wirksamste sein, wenn man nicht jedes Jahr neue Tourneetheater einkaufen will und kann, die entsprechend den höchsten Gagen ihre Routen wählen. Selbst kreativ zu sein und passend zur Stadt und zur Region Kulturangebote und auch Kulturbotschaften zu entwickeln, wird den Herausforderungen unserer Zeit gerecht und wird auch dazu beitragen, ein weiteres Feld für den Tourismus zu entwickeln, auf das ein interessiertes Publikum wartet, das nicht nur auf ausgelaufenen Feldern des Mainstreams unterwegs sein will, sondern das – um Matteo Thun zu zitieren – Begriffe wie Respekt, Ausstrahlung, Bescheidenheit, Einzigartigkeit schätzt.

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